Ein Beitrag von Sevda Can Arslan (mit herzlichem Dank an Juliane Pfeiffer für ihre kritisch-konstruktiven Anregungen), 30.09.2022

„Medien müssen (…) als ein für die Reproduktion des gesellschaftlichen Antiziganismus hochgradig relevanter Faktor verstanden werden. Sie können jedoch ebenso ein relevanter Faktor für die Bekämpfung des Antiziganismus sein.“ (S. 149) 

So steht es im 2021 erschienen Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus. In unserem KriKoWi:talks zum Thema „Antiziganismus in den Medien“ haben wir am 21. September 2022 mit vier Expert_innen darüber gesprochen, was das genau bedeutet. Mit dabei waren Jùlie Halilic, Radmila Mladenova, Adrian Oeser, Markus End, etwa 15 interessierte Zuhörer_innen, Juliane Pfeiffer als Technik-Support und ich als Moderatorin.

Antiziganismus jenseits von Medien

Noch unter dem Eindruck von Adrian Oesers Dokumentation „Der lange Weg der Sinti und Roma“, die ich zuletzt am 18. September im Rahmen der „RomnoPower-Kulturwoche“ des Verbands Deutscher Sinti und Roma in Mannheim gesehen hatte und die im März in der ARD gezeigt wurde, fokussierte ich in der Moderation vor allem auf den Widerstand und die Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung. Im Rückblick bin ich mir unsicher, ob so überhaupt die bisweilen tödliche Tragweite von Antiziganismus deutlich geworden ist. Für alle, die mit dem Thema bisher nicht so stark vertraut sind, sollen die Auswirkungen zumindest in diesem Nachbericht zunächst konkret benannt werden.

Zuletzt war die Ungleichbehandlung von Roma (und Schwarzen Drittstaatler_innen) im Gegensatz zu anderen Geflüchteten aus der Ukraine immerhin kurz Thema in den Medien.

Der 2021 erschienene Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA) führt viele weitere aktuelle Beispiele für Antiziganismus auf, zu denen es kaum Berichterstattung gab:

  • „gesetzwidrige(…) Sondererfassung von Sinti_ze und Rom_nja bei der Berliner Polizei“
  • „antiziganistisch legitimierte(…) Absperrungen ganzer Wohnblocks im Kontext der Corona- Ausnahmesituation“
  • „Abschiebungen von seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Rom_nja in existenziellen Notlagen“
  • „Abführung eines elfjährigen Kindes in Handschellen und seine Inhaftnahme sowie weitere Fälle exzessiver Polizeigewalt“
  • „(e)ntsetzlicher Höhepunkt einer Reihe rassistischer Angriffe auf Rom_nja und Sinti_ze war der rechtsterroristische Anschlag in Hanau vom 19. Februar 2020. Unter den neun Todesopfern befinden sich drei Angehörige aus den Communitys von Sinti_ze und Rom_nja: die 35-jährige Mercedes Kierpacz, der 23-jährige Vili Viorel Păun und der 33-jährige Kaloyan Velkov“ (S. 11)

Wenig Aufmerksamkeit bekommen derzeit die Pläne der Deutschen Bahn für eine neue S-Bahn-Trasse, worauf Jùlie Halilic im Talk hinweist. Der Neubau würde zum Abbau des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti_ze und Rom_nja Europas führen, weshalb ihre Organisation „Sinti-Roma-Pride“ diese Petition gestartet hatte. 

Antiziganistische Bilder sind überall

Wir leben in einer durch und durch antiziganistischen Gesellschaft, darüber sind sich alle eingeladenen Expert_innen einig. Das Ende des Nationalsozialismus hat keinen Bruch mit dem Antiziganismus gebracht; die zahlreichen Kontinuitäten nach 1945 werden u. a. in der Dokumentation von Adrian Oeser klar.

Antiziganismus geht auch über Deutschland hinaus. Radmila Mladenova zeigt, dass sich nationale Filmkulturen in Bezug auf Antiziganismus kaum unterscheiden. Jedes europäische Land hat einen Kultfilm mit antiziganistischen Motiven, auch Hollywood ist voll davon. Der oft als „Vater des Films“ geltende D. W. Griffith inszeniert 1908 in seinem Debüt „The Adventures of Dollie“ ein antiziganistisches Kinderraub-Motiv. Über hundert Jahre später kommt der Kinderfilm „Nellys Abenteuer“ mit demselben antiziganistischen Stereotyp in die deutschen Kinos, mitfinanziert durch staatliche Filmförderung.

Aktuelle Filme, die in unserem Talk außerdem kritisiert wurden, sind „Sherlock Holmes: Spiel im Schatten“, „Chocolat – Ein kleiner Biss genügt“ und „Bibi & Tina: Tohuwabohu Total“ sowie die Serie „Peaky Blinders“. All diese Produktionen waren und sind an den Kinokassen, im Fernsehen und auf Streamingplattformen sehr erfolgreich. Die älteren Filme werden bis heute ohne Problematisierung ihres eingeschriebenen Antiziganismus u. a. in Retrospektiven gezeigt und vornehmlich unter künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet und entsprechend gewürdigt. Aber, so der Einwurf von Jùlie Halilic: Eine Angehörige der Minderheit, bspw. als Klassenkameradin in der Oberstufe, komme im Film und Fernsehen nie vor.

Radmila Mladenova erklärt, dass in der Wissenschaft bisher das Hauptkriterium für sogenannte „Zigeunerfilme“ das der „Authentizität“ war. Als sie vor zehn Jahren anfing, sich mit den Filmen auseinanderzusetzen, fand sie keine geeigneten Instrumente für Kritik am Antiziganismus. Sie orientierte sich daher an den US-amerikanischen Perspektiven, die sich rassismuskritisch mit Blackface Ministrel Shows auseinandersetzten. Diese Shows waren zeitgleich zu den Lynchmorden an Schwarzen Menschen das beliebteste Unterhaltungsformat in den USA. Mladenova weist darauf hin, dass es in den von ihr untersuchten Filmen nie um eine Darstellung von Sinti_ze und Rom_nja ging, sondern immer nur um die Nutzung des rassistischen Bildes der Minderheit als Kontrastfigur für die nationale Mehrheit. Diese Filme hätten damit vor allem eine disziplinierende Funktion.

Die Wirkmächtigkeit der Bilder wird auch im nicht-fiktiven Bereich deutlich. Markus End betont, dass sich der gesamte Journalismus in Deutschland antiziganistischer Muster bedient, ob in rechtspopulistischen Organen oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR). Es handle sich bei Antiziganismus nicht um Einzelfälle oder Ausreißer, sondern um ein strukturelles Problem über alle Medien hinweg. Diese antiziganistische Normalität beruhe auf kulturellen Mustern, die lang etabliert seien. Das antiziganistische Bildgedächtnis der Mehrheitsgesellschaft materialisiere sich bspw. in der Datenbank von Getty Images. Mit dem Tag „romani people“ markierte Bilder sind hauptsächlich Fotografien von Armut oder Osteuropa, dazu kommen Models in „hippiesker“ Kleidung und nur sehr wenige Bilder politischer Repräsentant_innen. Selbst ein vermutlich gut gemeinter kurzer Erklär-Beitrag aus dem ÖRR, der auf wortsprachlicher Ebene die Diversität der Sinti_ze und Rom_nja veranschaulicht, verwende als Hintergrundbild ein ärmliches Haus. Da zwischen der Minderheit und diesem Bild erst einmal kein innerer Zusammenhang besteht, offenbart diese Motivwahl, dass Medien voraussetzen, bei ihren Zuschauer_innen sei solch ein Zusammenhang bereits etabliert.

Neue Bilder ‒ aber wie?

Doch wie kommen wir nun dagegen an? Adrian Oeser wollte es in seiner Dokumentation anders machen und ließ sich dabei von einem anderen Film inspirieren: „Kampf um Anerkennung“, ein Film des Hessischen Landesverbands Deutscher Sinti und Roma (2016) zu vier Jahrzehnten Bürgerrechtsarbeit. Oeser sah hier das erste Mal kämpferische Menschen aus der Minderheit dargestellt. Daraufhin wollte er sein Wissen über die Verfolgung der Sinti und Roma erweitern und die Bürgerrechtsbewegung einem breiteren Publikum bekannt machen – und stand dabei vor zwei Herausforderungen: den Umgang mit bestehenden Bildern und der Produktion von neuen Bildern.

Seine systematische Recherche in Archiven des ÖRR ab den 1950er Jahren brachte vor allem antiziganistische Berichterstattung zutage: Roma wurden stets im Abseits gezeigt, die rassistische Fremdbezeichnung verwendet und völlig selbstverständlich auf NS-Terminologie zurückgegriffen. Um diese Bilder zeigen und gleichzeitig kritisieren zu können, entschied sich Oeser, die Archivaufnahmen immer zu kontextualisieren und im eigenen Off-Kommentar explizit als rassistisch zu benennen. Neben dieser sprachlichen Rahmung arbeitete er auch mit visuellen Mitteln. So wurde das Archivmaterial zunächst im Original und dann gespiegelt gezeigt, um es zu filtern und zu brechen.

Um neue Bilder zu schaffen, entschied Oeser sich dazu, Angehörige der Minderheit ihre Geschichten selbst erzählen zu lassen. Der Sprechertext sollte nur historische Rahmendaten liefern, die Doku besteht ansonsten hauptsächlich aus den individuellen Geschichten der Protagonist_innen. Damit folgte Oeser einer Strategie, die er in Workshops während seines Recherche-Stipendiums vom Deutschen Institut für Menschenrechte gelernt hatte: Isidora Randjelović von Romani Phen hatte Oesers Arbeit damals begleitet und die Wichtigkeit betont, mit neuen Bildern antiziganistische Bilder zu überlagern.

Gegenrede, Workshops und politischer Druck

Auch in der Arbeit von Jùlie Halilic und der von ihr mitgegründeten Gruppe Sinti-Roma-Pride spielen aufklärende Workshops, die sich an die Dominanzgesellschaft richten, eine Rolle. Vor gut zehn Jahren haben sich die Aktivist_innen auf Facebook gefunden und halten seither dagegen, wenn sie online antiziganistische Kommentare sehen. Mittlerweile ist die Gruppe auch auf Instagram aktiv. Neben der Bildungsarbeit für die Dominanzgesellschaft geht es Sinti-Roma-Pride um Empowerment für die eigene Community. Dadurch trauen sich immer mehr Sinti_ze und Rom_nja, auch öffentlich als Angehörige der Minderheit aufzutreten. Von den großen Plattformen fordert Halilic, dass die technische Meldefunktion die Markierung eines Hass-Kommentars speziell als „antiziganistisch“ ermöglicht. Außerdem sollen Filmemacher_innen Verantwortung übernehmen, zudem sei Comedy auf Kosten der Minderheit nicht lustig.

Markus End glaubt, dass sich durch Workshops und Appelle allein nichts ändert. Obwohl er seit über zehn Jahren immer wieder Journalist_innen aufkläre, bleibe alles, wie es ist. Er kritisiert außerdem, dass Aktivist_innen aus der Minderheit die ganze Arbeit übernehmen und selbst für die Recherchen aufkommen müssen. End sieht große Medienhäuser und Verlage in der Verantwortung für kritische Selbstreflexion. Der Pressekodex ist für ihn kein gutes Instrument. Im Gegenteil: Nach der „Kölner Silvesternacht“ sei dieser sogar noch zum Nachteil der Minderheit aufgeweicht statt verschärft worden. End fordert die Schaffung von Meldestellen, die über ausreichend Ressourcen verfügen, um Antiziganismus zu protokollieren. Mit deren Daten und Zugang zur Öffentlichkeit ist es möglich, politischen Druck aufzubauen. Nur mit einer solchen Institutionalisierung scheint es realistisch, die politischen Kämpfe um Antiziganismus gegen beharrliche Gegenkräfte zu gewinnen.

Eine Möglichkeit für Verbesserung sieht Oeser in Programmbeschwerden. Seiner Erfahrung nach nehme der Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks das Thema Antiziganismus sehr ernst. Ein Hindernis für die Auseinandersetzung innerhalb großer Medienhäuser sieht er aber vor allem in den prekären Arbeitsverhältnissen. Diese machen es Journalist_innen schwer, Konflikte zu führen. Eine Chance für eine andere Berichterstattung erkennt er in den neuen Distributionswegen. Während beim linearen Fernsehen noch eine möglichst große Masse an Menschen erreicht werden musste, machen die Mediatheken es möglich, auch für kleinere Zielgruppen interessante Themen aufzubereiten. 

Fazit

Für die Organisation künftiger Veranstaltungen nehme ich mit: Als Expert_innen sollten immer auch Angehörige der Minderheit selbst eingeladen und gehört werden. Um sich voll auf das Diskussionsthema fokussieren zu können, macht es außerdem Sinn, sich schon im Vorhinein damit zu beschäftigen, welche Worte wie benutzt oder vermieden werden. Dazu gibt es unterschiedliche Positionen ‒ auch innerhalb der Minderheit selbst ‒ denn ja, diese Gruppe ist höchst heterogen, that’s the whole point! Ob man sich vorab nun einig wird oder zumindest über eine Uneinigkeit verständigt, auf jeden Fall lassen sich dadurch vom eigentlichen Thema ablenkende Irritationen im Gespräch vorbeugen.

Bei unserem nunmehr sechsten KriKoWi:talk waren live etwa fünfzehn Zuschauer_innen dabei, etwas weniger als die vorherigen Male, was sicher auch an der Mittagszeit lag, zu der viele arbeiten. Da wir den Talk über viele Kanäle breit beworben hatten und bei diesem Thema nicht sicher sein konnten, dass es nicht zu Hatespeech kommt, ließen wir keine Video– und Audioteilnahme von Zuschauer_innen zu und schalteten die Gruppenchat-Funktion aus. Letztlich kamen aber erfreulicherweise nur Personen, die tatsächlich an der Sache interessiert waren. Das zeigten die Fragen, die die Teilnehmenden via Chat an das Podium richteten und die Resonanz auf die Aufzeichnung: Seit der Veröffentlichung in der letzten Woche ist das Video schon über hundertmal aufgerufen worden. Interesse für das Thema scheint also da zu sein und viele der im Talk angesprochenen Aspekte lohnen sicher einer tieferen Betrachtung in weiteren Veranstaltungen – nicht nur bei KriKoWi

Zum Thema Antiziganismus in den Medien gibt es einigen Forschungs- und Handlungsbedarf. Kritische Medienforschende können hier in Zusammenarbeit mit den Selbstorganisationen sicher noch einiges leisten!

Weiterführende Quellen

Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2021): Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation. Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus. Unter Mitarbeit von Koordinierungsstelle der Unabhängigen Kommission Antiziganismus c/o Deutsches Institut für Menschenrechte. Online verfügbar unter https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/UKA/Bericht_UKA_Perspektivwechsel_Nachholende_Gerechtigkeit_Partizipation.pdf.

End, Markus (2014): Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation; Studie für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma; Heidelberg: Dokumentations- und Kulturzentrum Dt. Sinti und Roma. Online verfügbar unter https://dokuzentrum.sintiundroma.de/wp-content/uploads/2019/12/140000_Langfassung_Studie_Antiziganismus.pdf

Hessischer Landesverband Deutscher Sinti und Roma (2021): Antiziganismus in den Medien, 01.02.2021. Online verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=5rnliS1L8zA.

Memisi, Sejnur; Novakovic, Nino: Rymecast. Roma Youth Media. Online verfügbar unter https://open.spotify.com/show/2ZKrZlu8rFjPDly1TiVsn7.

Mladenova, Radmila: The ‘White’ Mask and the ‘Gypsy’ Mask in Film. (Antiziganismusforschung interdisziplinär – Schriftenreihe der Forschungsstelle Antiziganismus, Band 3). Online Verfügbar unter https://heiup.uni-heidelberg.de/catalog/book/989

Mladenova, Radmila (2019): Patterns of symbolic violence. The motif of „gypsy“ child-theft across visual media. Heidelberg: Heidelberg University Publishing (Interdisciplinary studies in antigypsyism, volume 1). Online verfügbar unter https://heiup.uni-heidelberg.de/catalog/book/483.

Mladenova, Radmila; Borcke, Tobias von; Brunssen, Pavel (Hg.) (2020): Antigypsyism and Film. Heidelberg: Heidelberg University Publishing. Online verfügbar unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:16-heiup-book-650-2.

Nestler, Peter (2022a): Der offene Blick. Künstlerinnen und Künstler der Sinti und Roma. 3sat, 25.07.2022. Online verfügbar unter https://www.3sat.de/film/dokumentarfilmzeit/der-offene-blick—kuenstlerinnen-und-kuenstler-der—sinti-und-roma-100.html.

Nestler, Peter (2022b): Unrecht und Widerstand. Romani Rose und die Bürgerrechtsbewegung. 3sat, 25.07.2022. Online verfügbar unter https://www.3sat.de/film/dokumentarfilmzeit/unrecht-und-widerstand—romani-rose-und-die—buergerrechtsbewegung-100.html.

Reuter, Frank; Gress, Daniela; Mladenova, Radmila (Hg.) (2021): Visuelle Dimensionen des Antiziganismus. Heidelberg: Heidelberg University Publishing (Antiziganismusforschung interdisziplinär, 2). Online verfügbar unter https://directory.doabooks.org/handle/20.500.12854/75209.

Senger, Valentin; Senger, Irmgard (1963): Der Fall Dr. Eva Justin. Hessischer Rundfunk, 1963.

Seybold, Katrin; Spitta, Melanie (1987): Das falsche Wort. Bayerischer Rundfunk, 1987.