Vom 29. November bis zum 1. Dezember 2018 fand die zweite Jahrestagung des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft zum Thema „Ideologien und Ideologiekritik“ am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IfKW) der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) statt. Über 80 Teilnehmende reisten aus Deutschland, Österreich, Norwegen, England und den USA an.

Fabian Scheidler, Dramaturg und Buchautor von „Das Ende der Megamaschine“, sowie der Soziologe Prof. Dr. Stephan Lessenich (LMU), Buchautor von „Neben uns die Sintflut: Wie wir auf Kosten anderer leben“ rahmten die Tagung mit ihren Hauptvorträgen. Insgesamt gab es 24 Vorträge, die um das Ideologieproblem kreisten, also wie Macht- und Herrschaftsverhältnisse mithilfe der Medien hergestellt, abgesichert und gerechtfertigt werden.

Tagungsauftakt mit Fabian Scheidlers Keynote, moderiert von Mandy Tröger
Tagungsauftakt – moderiert von Mandy Tröger. Foto: Natalie Berner

Die Teilnehmenden diskutierten wissenschaftliche, pädagogische und andere praktische Antworten auf vergangene und gegenwärtige Ideologien aus emanzipatorischer Perspektive. Zusätzlich zu den Vorträgen fanden Workshops zur kritischen Lehre; kritischen politischen Ökonomie der Medien und Kommunikation; Kritik strategischer Kommunikation; sowie zu Ideologie und Angst in der wissenschaftlichen Karriere statt.

Der Kapitalismus als „Elefant im Raum“? Die Keynote von Fabian Scheidler

Im Vorfeld der Tagung freuten sich einige Teilnehmende auf einen „multidisziplinären Austausch zu herrschaftskritischer Thematik“. Diesem Interesse wurde bereits der erste Keynote-Vortrag von Fabian Scheidler mit einer historischen Perspektive gerecht. Gegenwärtige weltweite Krisen seien nach Scheidler durch das fünfhundertjährige „kapitalistische Weltsystem“ bedingt. Mit Hilfe seiner ideologischen Macht bringe das System die Menschen davon ab, es als Hauptursache für die Krisen zu erkennen. Damit sei das kapitalistische Weltsystem, so Scheidler, wie der allgegenwärtige, aber in seiner Gesamtheit nicht nachvollzogene „Elefant im Raum”.

Keynote von Fabian Scheidler
Der „Elefant im Raum“. Keynote von Fabian Scheidler. Foto: Natalie Berner

Seine ideologische Macht basiere auf dem „Mythos des Westens“, dem „Mythos der Märkte“, dem „Mythos der Maschine und der Herrschaft über die Natur“ sowie dem „Mythos der Objektivität“. Um aus dieser düsteren „Megamaschine“ auszusteigen, gelte es, seinen Mythen entgegenzuhalten und hierfür den Journalismus zu transformieren. Hierzu führte Scheidler das von ihm mitbegründete Kontext TV als Beispiel an. Im Anschluss an den Vortag folgte eine würdigende und zugleich kritische Diskussion. Während einige Diskussionsteilnehmende bezweifelten, inwiefern der Kapitalismus als Krisenursache aktuell verkannt sei, hielten andere Scheidler eine allzu vereinfachende, gegensätzliche Entwicklungen und vielfältige Einflussfaktoren ausblendende, Gesamtdarstellung vor. Insgesamt war sich das Plenum darin einig, dass öffentliche Medien demokratischerer Strukturen bedürfen.

„Stereotypisierer, Stereotypisierte und Macht“. Das erste Panel

Die Vortragenden des ersten Konferenzpanels unterstrichen die Multidisziplinarität der Tagung durch eine hohe Theorievielfalt. Sebastian Sevignani beleuchtete die kommunikationswissenschaftliche Zentralkategorie der Öffentlichkeit aus einer ideologie- und hegemonietheoretischen Perspektive. Das Problem mit „bürgerlichen Öffentlichkeiten” sei unter anderem, dass sie letztlich ein „Gemeinwesen” reklamierten, obwohl die kapitalistische Gesellschaft doch real zutiefst gespalten sei. Martina Thiele trat in ihrem Vortrag der Marginalisierung der Stereotypenforschung in der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationsforschung entgegen. Sie kritisierte die Vorstellung, Stereotype seien unumgänglich, und plädierte für ein anti-kategoriales Denken. Die Theorievielfalt des Panels wurde durch Armin Scholls konstruktivistischen Zugang bereichert. Am Beispiel von Fake News veranschaulichte er, wie sich dieser Zugang für eine kritische Kommunikationswissenschaft nutzbar machen ließe. Er plädierte für einen Wahrheitspragmatismus anstelle eines Wahrheitsidealismus. Lisa Dühring und Thomas Rakebrand ergänzten das theoretisch orientierte Panel durch eine Ideologiekritik der Hochschuldidaktik. Sie kritisierten die Anwendungsorientierung innerhalb von Hochschulcurricula, wonach praxisdienliche Kompetenzen auf Kosten von kritischem Denken vermittelt werden würden und schlugen alternative pädagogische Methoden vor, um Studierende zur „Mitbestimmung zur befähigen“.

Von „matters of fact“ zu „matters of concern“. Die Keynote von Stephan Lessenich

Die zweite Keynote der Tagung spannte im Anschluss an das erste Panel einen Faden zwischen vielen der bisher präsentierten Gedanken. Stephan Lessenich kritisierte zunächst aus konstruktivistischer Perspektive das positivistische Streben nach einer faktischen Wirklichkeit. Stattdessen solle die soziale Kontingenz der Wirklichkeit aufgezeigt werden. Gleichzeitig kritisierte Lessenich mit Hilfe von Bruno Latour die postmoderne Dekonstruktion der Wirklichkeit, die nicht zum gesellschaftlichen Verständnis der Wirklichkeit beitragen würde. Vielmehr plädierte Lessenich für eine kritische Soziologie, die im ersten Schritt die Konstitution der „matters of concern“ und damit die Konstruktion gesellschaftlich relevanter Wirklichkeitsausschnitte untersuchen würde. Im zweiten Schritt würde eine kritische Soziologie an der Neubestimmung dieser Wirklichkeit mitwirken. Hierbei orientierte sich Lessenich an Michael Burawoys Public Sociology. Nach der Keynote folgte eine interessante Diskussion, bei der unter anderem die Frage aufkam, auf welche Art und Weise konkret Wissenschaftlerinnen Wirklichkeit neu bestimmen und damit gesellschaftliche Wirkung entfalten könnten.

Keynote von Stephan Lessenich – moderiert von Kerem Schamberger. Foto: Natalie Berner

Ideologien in journalistischer Berichterstattung, öffentlichen Debatten und wissenschaftlicher Praxis. Parallele Panels

Die ersten parallelen Panels wandten den Ideologiebegriff auf konkrete Fragestellungen der Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie auf die wissenschaftliche Arbeit an. Das zweite Panel beschäftigte sich mit Ideologie in journalistischer Berichterstattung. Michael Haller erläuterte Meinungsmache, Mainstream und Moralismus als Herausforderungen für journalistische Aufklärung. Kim Kristin Mauch wandte das Propaganda-Modell auf Krankenhausbombardierungen durch die USA und Russland an. Maximilian Küstermann diskutierte Neoliberale Hegemonie und Postdemokratisierung der Öffentlichkeit am Beispiel der Glyphosat-Debatte in Tageszeitungen. Die Vortragenden des dritten Panels zogen eine Verbindung zwischen Diskurs- / Frameanalysen und Ideologiekritik. Birgit Peuker zeigte Ideologien in öffentlichen Debatten zur Agrar-Gentechnik auf. Tilman Klawier rekonstruierte Ideologien mit Hilfe Robert Entmans Frameanalyse. Florian Zollmann argumentierte für quantifizierbare Indikatoren für medienvermittelte Ideologien. Die abschließende Diskussion befasste sich unter anderem mit der Frage, ob der Ideologiebegriff breit und neutral gefasst oder als ein kritischer Begriff gefasst werden sollte. Das vierte Panel beschäftigte sich mit ideologiekritischen Praxen in der Wissenschaft. Dennis Wutzke kritisierte die akademische Betriebsamkeit und ihren Fetischcharakter mit Hilfe einer Ideologietheorie wissenschaftlicher „Leistung“. Manfred Knoche wandte die Kritik der politischen Ökonomie auf die Wissenschaftskommunikation an. Patrick Körner fragte nach einer erfolgreichen Praxis der Ideologiekritik als eine Aufklärungstechnologie.

Ein kritischer Blick auf Forschung, Lehre, politische Ökonomie und strategische Kommunikation. Vertiefende Workshops

Neben den klassischen Vortragsformaten diskutierten die Teilnehmenden der Tagung einzelne Fragestellungen gemeinsam während der vertiefenden Workshops. Im Arbeitskreis Kritische Lehre wurde zum einen über die Sinnhaftigkeit von Notengebung (und damit die Verwertbarmachung von Abschlüssen) diskutiert. Zum anderen spielten Lehrpläne, die den Studierenden kritische Theorien in- und außerhalb der Kommunikationswissenschaft näher bringen sollten, eine Rolle. Beispiele finden sich auf https://kritischekommunikationswissenschaft.wordpress.com/lehrpool/. Auf der eigens umbenannten „Unkonferenz” zum Thema „Wissenschaftliche Karriere, Ideologie und Angst”, welche von Gabriele Sprigath, Thomas Rakebrand und Florian Dobmeier vorbereitet und moderiert wurde, hatten die Teilnehmenden Raum zum offenen und ehrlichen Austausch über ihre Erfahrungen im Wissenschaftsbetrieb. Die Verunmöglichung einer sicheren Arbeitsperspektive besonders im akademischen Mittelbau wurde dabei von allen Anwesenden beklagt, wobei zugegeben wurde, dass Konkurrenz und Veröffentlichungswettbewerb auch bei entfristeten Stellen eine Rolle spielen. Der Workshop endete mit Vorschlägen für Alternativen, ein Gefühl von Rückhalt und Solidarität. Rund zehn Interessierte nahmen am Workshop des Arbeitskreises Kritische Politische Ökonomie der Medien und der Kommunikation (KPOeMK) teil, der unter der Leitung von Sebastian Sevignani und Aljoscha Paulus mit einer Diskussion über die Relevanz und Aktualität kritisch-politökonomischer Ansätze in den Medien- und Kommunikationswissenschaften startete. Als Input dienten mehrere Texte (u.a. von Horst Holzer, 1994) sowie die eigenen Vorstellungen der Teilnehmenden zum aktuellen Gegenstandsbereich und zu zentralen Fragestellungen der KPOeMK. Neben inhaltlichen Aspekten gab der Workshop Gelegenheit zum Austausch über praktische Erfahrungen, Probleme und Chancen entsprechender Lehre und Forschung. Schließlich wurden Ideen zur weiteren Entwicklung und Programmatik des Arbeitskreises diskutiert. Beim vierten Workshop behandelte der Arbeitskreis Kritik Strategischer Kommunikation Normativität in der Praxis und Erforschung strategischer Kommunikation. Lisa Dühring fragte nach der Vereinbarkeit verschiedener theoretischer Schulen, insbesondere hinsichtlich pragmatischer und normativer Zugänge zur Kommunikationspraxis. Nils S. Borchers beschäftigte sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung der Werbung in Bezug auf die steigende Kommerzialisierung und Vermachtung des Alltagslebens. Dimitrij Umansky stellte forschungsethische Fragen und forderte Forschende auf, für ihre ideelle und materielle Wirkung auf die Forschungsteilnehmenden und in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.

Ideologietheorie, digitaler Kapitalismus und Nachhaltigkeit. Parallele Panels

Die abschließenden Panels der Tagung vertieften die Arbeit am Ideologiebegriff und zeigten weitere Anwendungsbereiche auf. Floris Biskamp stellte am Beispiel von „Islamdebatten“ das ideologiekritische Potenzial des von Habermas auf der Mikroebene eingeführten Begriff der systematisch verzerrten Kommunikation dar. Als „systematisch verzerrte Verständigungsverhältnisse“ ließen sich konkrete Bedingungen untersuchen, unter denen bestimmte Geltungsansprüche gegen ihre effektive Infragestellung abgeschirmt sind. Emanuel Kapfinger entwickelte ausgehend von Hegels Religionsbegriff einige Merkmale einer kritischen Ideologietheorie. Renatus Schenkel argumentierte aus einer kritisch psychologischen Perspektive, dass viele kommunikationswissenschaftliche Ansätze einen ungenügenden Subjektbegriff verwendeten und letztlich ein simples Stimulus-Response-Modell nicht verließen. Mandy Tröger setzte sich ideologiekritisch mit dem Diskurs der „freien Presse” zur Wendezeit auseinander. Sie argumentierte, dass es unter diesem Label für westdeutsche Medienkonzerne möglich wurde einen neuen Markt zu erobern und gleichzeitig Chancen einer radikaldemokratischen Transformation des Mediensystem vergeben wurden. In einem weiteren Panel erörterten die Teilnehmenden den Einfluss von Ideologien in verschiedenen Bereichen der Medienproduktion. Randy Nichols hinterfragte die Praxis in der Computerspieleindustrie, die Begeisterung von Spielenden für bestimmte Spiele auszunutzen, um sie zusätzlichen Content erstellen zu lassen, ohne sie dafür zu entlohnen. Sebastian Jürss und Nils S. Borchers rekonstruierten, wie Ideologien dazu beitragen, ein neu entstehendes Wirtschaftsphänomen wie die Sharing Economy zu legitimieren. Und Holger Pötzsch zeichnete anhand zweier Versionen des Films „I am Legend” nach, wie sich Ideologien auf die Kunstfreiheit des Mainstream-Kinos auswirken. Das letzte Panel behandelte Ideologien im Widerspruch zu einer nachhaltigen Welt. Uwe Krüger und Juliane Pfeiffer argumentierten für kommunikationswissenschaftliche Möglichkeiten, Ideologien der neoklassischen Ökonomie und des Romantischen Konsumismus zu erwidern, um alternative, nachhaltige Lebensweisen zu fördern. Benjamin Bigl kritisierte die gegenwärtige Berichterstattung ökologischer Themen und stellte Normen für einen sich an ökologischer Nachhaltigkeit orientierenden Journalismus auf. Die Diskussion befasste sich mit der Umsetzung und Wirksamkeit der normativen Vorhaben für die Wissenschaft und den Journalismus.

„Ein Raum zum kritischen Denken“. Abschluss der Tagung und Ausblick

Die zweite Tagung verdeutlichte die Verstetigung des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft, das im letzten Jahr gegründet wurde. Mittlerweile abonnieren 315 Leserinnen den Mailverteiler – viele verfolgten den Livestream der Tagung auf YouTube und folgen den Aktivitäten des Netzwerks auf Twitter und Facebook. Die Zahl der Teilnehmenden und Vortragenden der Tagung ist im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, aber auch die Diskussionen haben sich konkretisiert. Während die letztjährige Tagung grundsätzlich zu kritischen Beiträgen einlud, konzentrierte sich die diesjährige Tagung auf Ideologiekritik. Obwohl Ideologiekritik ein spezielles und kein prominentes Thema in der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienwissenschaft darstellt, beeinhaltate die Tagung 24 Vorträge, die in einem Open Peer Review-Verfahren aus den Einreichungen ausgewählt wurden. Das Interesse am Netzwerk scheint groß zu sein, und viele der diesjährigen Teilnehmenden haben auch im letzten Jahr teilgenommen. Einige Teilnehmende äußern ihr Interesse an der Institutionalisierung des Netzwerks. So begann das Organisationsteam des Netzwerks vor einem Jahr mit drei Mitgliedern und ist mittlerweile auf 14 Mitglieder angewachsen. Einige der im letzten Jahr gegründeten Arbeitskreise existieren weiter fort, und es haben sich auf der diesjährigen Tagung weitere Arbeitskreise gegründet, die an speziellen Tagungsformaten und Finanzierungsmöglichkeiten arbeiten. So positiv die zunehmende Verstetigung und Konkretisierung der Interessen ist, mahnen doch einige der Teilnehmenden, die netzwerktypische Offenheit und Flexibilität beizubehalten. Viele freuen sich über die Akzeptanz vielfältiger Perspektiven der Kritik und genießen die Tagungen des Netzwerks als einen „Raum zum kritischen Denken, ohne sich dauernd verteidigen zu müssen“. Somit gilt es in Zukunft für das Netzwerk, den Spagat zwischen Institutionalisierung und Flexibilität beizubehalten, um nicht zu einer Echokammer zu verkommen, sondern weiterhin einen Resonanzraum für kritisches Denken zu bilden.

Das Orgateam der zweiten Jahrestagung. Foto: Natalie Berner

Die Tagung wurde veranstaltet von Prof. Dr. Michael Meyen (IfKW) und gefördert vom Verein zur Förderung und Lehre am Institut der Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München e.V., dem transcript-Verlag, dem Herbert-von-Halem-Verlag sowie Heiko Hilker vom Dresdner Institut für Medien Bildung und Beratung. Die Tagung wurde organisiert von Sevda Can Arslan, Natalie Berner, Uwe Krüger, Melanie Malczok, Aljoscha Paulus, Julia Polkowski, Kerem Schamberger, Sebastian Sevignani, Mandy Tröger, Dimitrij Umansky und Marlen van den Ecker. Die regionale Organisation wurden durchgeführt von Kerem Schamberger, Natalie Berner, Mandy Tröger und Janina Schier.

Im Namen des Organisationsteams
Dimitrij Umansky